POLEN | DEUTSCHLAND

JUSTYNA
UND LUDGER

Das Leben
schreibt seine
eigene geschichte!

Wollen Kunst- und Kulturinteressierte das DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst besuchen und biegen sie in Hörstel von der Friedrich-Wilhelm-Straße ab, um zur Klosterstraße 10 zu kommen, so kommen sie unweigerlich am Bürohaus der Architektengemeinschaft bm architekten Borgel, Meyer, Veit in der Klosterstraße 4 vorbei. Vor deren Haus werden sie von einem der blauen Friedensschafe des Blauschäfers Rainer Bonk aus Rheinberg begrüßt.

Unter der Schirmherrschaft des EU-Parlaments sind die blauen Friedensschafe Teil eines Aktionskunstprojekts zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses, der Toleranz und des friedlichen Miteinanders. Europaweit ist diese Friedensherde unterwegs, um für ein friedliches Zusammenleben in Europa und weltweit zu werben. So hat auch die Europa Union des Kreises Steinfurt jeweils zur Europawahl 2019 und 2024 den Künstler und seine Herde nach Rheine eingeladen. So manches Friedensschaf fand dabei dann im Kreis Steinfurt ein neues Zuhause – eines davon offenbar auch im Garten der Architektengemeinschaft. Deshalb hat es uns natürlich besonders gefreut, ausgerechnet vom Architekten Ludger Borgel und seiner Frau Justyna in die Räumlichkeiten der Bürogemeinschaft eingeladen zu werden und dort ein Gespräch über deren bi-nationale Partnerschaft, ihre Sicht auf Europa, den Frieden – und natürlich über das blaue Friedensschaf – führen zu dürfen.

Die Geschichte von Justyna und Ludger begann mit der zunehmenden Demenz-Erkrankung von Ludgers Mutter. Ludger, Jahrgang 1966, wuchs mit vier Brüdern auf. Als sich bei der Mutter aufgrund ihrer Erkrankung zunehmender Unterstützungsbedarf abzeichnete, haben Ludger und einer der Brüder die Mutter zunächst im Elternhaus in Hörstel-Bevergern selbst gepflegt. Der Vater war zwischenzeitlich schon verstorben, in ein Pflegeheim wollte die Mutter nicht, und die Brüder wollten ihrer Mutter dies auch nicht zumuten. Doch mit der Zeit nahm der Pflegebedarf einen solchen Umfang an, dass die Brüder die Unterstützung mit ihrer eigenen Berufstätigkeit nicht mehr vereinbaren konnten. Von Freunden hatte Ludger die Adresse einer polnischen jungen Frau, die in Ibbenbüren als Pflegerin im Einsatz war. Diese fragte er, ob sie ihnen nicht eine andere polnische Pflegerin empfehlen könnte. Über diesen Weg erhielt Ludger die Telefonnummer Justyna aus Skieblewo im Nordosten von Polen, die er sogleich anrief. Nun war das Problem, dass er kein Polnisch sprach und das Gespräch in Deutsch und Englisch versuchte. Justyna am anderen Ende der Leitung – lediglich polnisch sprechend – verstand nichts und legte einfach auf.

Ludger aber gab nicht nach, kontaktierte erneut die Pflegerin aus Ibbenbüren und bat diese, bei einem weiteren Gespräch zu dolmetschen. So kam der Kontakt zwischen Justyna und Ludger zustande, und tatsächlich reiste Justyna acht Wochen später nach Deutschland, um die Pflege von Ludgers Mutter zu übernehmen.

„Am 8. Mai 2012 hat er angerufen“, erinnert sich Justyna bei unserem Gespräch noch genau.

Ende Juni kam sie dann nach Deutschland, ein für sie fremdes Land. Eigentlich hatte sie andere Pläne nach ihrem Studium, aber sie ließ sich auf das Abenteuer ein, denn „Das Leben schreibt seine eigene Geschichte“, meint sie heute. Sie sprach kein Deutsch und kannte entfernt lediglich Irina, die Pflegerin aus Ibbenbüren, denn es handelte sich um die Schwägerin einer Cousine. Zudem hatte sie „im Prinzip keine Ahnung von der Pflege von älteren und kranken Menschen. Das war nicht einfach für mich,““ erinnert sie sich. Aber in Polen hatte sie Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Resozialisierung studiert, sicherlich eine gute Grundlage, um mit Ausdauer, Geduld und einer bestimmten Art von Resilienz mit Menschen zu arbeiten. Und diese Eigenschaften wurden auch unmittelbar gefordert, als Ludger Borgel sie in Ibbenbüren bei Irina abholte. Als dieser nämlich in einem alten Fiat Kombi vorfuhr, bestückt mit je einer deutschen und einer polnischen Fahne, dachte Justyna: „Meine Güte, mit dem stimmt irgendwas nicht. Wenn der schon so ist, wie ist dann erst die Mutter? Und dann muss ich es aushalten mit dieser Familie…“ Aber sie hielt es aus.

Die Mama, so sagt Justyna, wenn sie heute von Ludgers Mutter spricht, war ganz anders, beim ersten Treffen ohne jede Emotion, später total eifersüchtig auf Ludger, als dieser immer mehr mit ihr, der Pflegerin, unternommen hat. Mamas Herz gewonnen hat sie letztendlich mit polnischem Essen. Das gelieferte „Essen auf Rädern“ war Justyna nicht gut genug für Mama, und so kaufte sie frisch ein und kochte gute polnische Küche. „Erst hat sie geguckt, und dann hat sie gelächelt. Und damit hab ich sie gekriegt!“ freut Justyna heute noch. Und irgendwie sind die beiden auch Freundinnen geworden. Justyna hat Deutsch gelernt, und die Mama ist noch mal mit ihrer Hilfe spazieren gegangen, zwei- oder dreimal hat sie auch noch alte Freundinnen getroffen, welch ein Erfolg! Im März 2013 ist Ludgers Mutter verstorben, aber da war für Justyna und Ludger schon klar, dass Justynas aktueller Lebensmittelpunkt auch weiterhin ihr Lebensmittelpunkt bleiben sollte.

Denn die polnische Küche hatte nicht nur die Mutter überzeugt. Auch Ludger war – wohl nicht nur wegen des guten Essens – nach und nach nicht mehr in seine eigene Wohnung zurückgegangen, sondern hat in seinem früheren Kinderzimmer im Elternhaus übernachtet. Justyna lernte bei ausgedehnten Spaziergängen mit Ludger immer besser Deutsch, über die Sprache sind sie sich näher gekommen. Und sie entdeckten, dass sie beide denselben Humor hatten. Noch heute lachen sie beide laut, wenn sie an „die Sache mit dem Heiratsantrag Silvester 2012″ denken. Irina, die Pflegerin aus Ibbenbüren, erzählte Ludger nämlich, dass manche Polen, wenn man „schon“ drei Monate zusammen ist, erwarten, dass man für klare Verhältnisse sorgt: entweder man bleibt zusammen, sprich man heiratet, oder man macht Schluss mit der Beziehung. Zunächst war Ludger geschockt über diese Ansage. Aber, so Ludger in seiner humorvollen Art: „Ich wusste, so eine Chance bekomme ich nie wieder, das war für mich schon klar.“ Und so fragte er Justyna am Silvesterabend, ob sie ihn, den 20 Jahre Älteren, heiraten wolle. Justyna erzählt uns, sie sei total überrascht gewesen. Wieder dachte sie, „der ist ja nicht normal“, aber andererseits hat sie doch Ja gesagt, denn „eigentlich benimmt der sich wie ein total junger Mensch“, lacht sie mit ihm. Nach der standesamtlichen Trauung im Juni 2013 hat Ludger dann seine Frau doch noch einmal gefragt, ob das wirklich so normal sei in Polen, dass man schon nach drei Monaten des Zusammenseins eine solche Entscheidung trifft. Justyna fiel aus allen Wolken, fragte zurück, wer das denn wohl gesagt habe, denn das sei natürlich nicht normal. Aber sie sagte auch: „Jetzt gibt’s kein Zurück mehr, das ziehen wir jetzt durch.“ Die kirchliche Trauung in Polen folgte 2014. Die war ihnen auch wichtig, denn Justynas Familie ist sehr gläubig.

Justynas Mutter war zunächst gar nicht so begeistert, dass ihre Tochter einen 20 Jahre älteren Mann heiratete, noch dazu einen Deutschen, meinte aber letztendlich, es sei ja deren Leben. Aber sie fragte auch, wie Ludger es wohl mit ihr, Justyna, aushalten würde. Mittlerweile versteht sich Justynas Familie sehr gut mit Ludger, man besucht sich häufig, der Schwiegervater wohnt aktuell bei dem Paar, weil er auch in Deutschland arbeitet. Der familiäre Zusammenhalt ist ihnen allen wichtig. Bei Besuchen in Polen wird Ludger stets freundlich und respektvoll behandelt. Das beeindruckt ihn immer noch, gerade weil er die Kriegsverbrechen nicht vergessen kann, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen an Polen begangen wurden.

Allerdings betont auch Justyna, dass die Menschen in Hörstel und Umgebung immer offen zu ihr waren, mit ihr über ihren Akzent gelacht und ihr Temperament bewundert haben. Sie habe ebenfalls keine Probleme gehabt, akzeptiert zu werden, fasst sie in ihrer bewiesenen Anpassungsfähigkeit ihre Erfahrungen zusammen.

Das Zusammenleben von Justyna und Ludger verlief ohne Probleme. Wir haben uns einfach so angenommen, wie wir sind. Wir haben uns auch nicht so viele Gedanken dazu gemacht, so Justyna. „Wir haben versucht, uns einander anzupassen.“

2013 wurde ihr Sohn Alexander geboren. Genau wie sein Vater interessiert er sich für alles, was mit Polen zusammenhängt. Schon sehr früh haben seine Eltern ihm erzählt, was im Zweiten Weltkrieg passiert war, und was durch Gewalt und Zerstörung lange Zeit das Verhältnis von Deutschen und Polen prägte und manchmal noch immer prägt. Justyna und Ludger glauben, dass Alexander sehr gut damit umgehen kann, auch weil er sagt: „Ich bin nicht deutsch, ich bin polnisch-deutsch.“ Justyna arbeitet nun wieder mit Menschen, hat alle Anerkennungsverfahren für ihr polnisches Studium mit Geduld hinter sich gebracht und ist nun mit Leidenschaft pädagogische Fachkraft für Betreutes Wohnen in den Ledder Werkstätten.

Justyna und Ludger sind sich einig, dass jeder verschieden ist, und auch jedes Land verschieden ist, aber man Kompromisse finden und zusammenhalten muss. Ihrer beider Blick geht auf ein gemeinsames Europa ohne Grenzen und mit allem Positiven, was ein gemeinsames Europa mit sich bringt,

„denn wir profitieren davon!“

Diese beiden machen uns eindrucksvoll vor, wie es gehen kann mit den Kompromissen – und das blaue Friedensschaf vor der Tür ist ein Symbol dafür!

Ein Projekt der Europa-Union Steinfurt e.V., gefördert durch: