DEUTSCHLAND | BELGIEN

ANNIKA
UND RON

EUROPA, DIE
MÖGLICHMACHERIN

Ohne Europa wäre Annika Detièges Leben anders verlaufen. Das ist keine blumige Floskel. Nein – Europa hat ihr Leben ganz konkret geprägt. Wie ein roter Faden zieht sich der Kontinent durch die Stationen ihrer Biografie.

Annika wächst in Rheine in einer Familie auf, in der das Interesse an der Welt allgegenwärtig ist. Ihre Mutter war schon in jungen Jahren viel unterwegs – das Fernweh scheint vererbt. Auch für die Rheinenserin steht früh fest: Sie will raus, Neues entdecken, offen sein für das, was die Welt zu bieten hat. Ihre erste längere Zeit im Ausland verbringt sie in den USA als Au-Pair. Überlegt, dort zu studieren. Doch gerade der Blick von außen auf Europa schärft ihren Sinn für die Vorteile der Heimat: niedrige Studien-gebühren, finanzielle Unterstützung durch Auslands-BaföG und die Sicherheit, dass Abschlüsse in allen EU-Ländern anerkannt werden.

Sie entscheidet sich für ein Studium in Europawissenschaften – in der Nähe von Brüssel, wo viele europäische Institutionen ihren Sitz haben. Das Herz der Europäischen Union schlägt dort, wo sie lernt. Annika hat ein klares Ziel: irgendwann selbst für die EU zu arbeiten. Das Studium passt perfekt zu diesem Plan, ebenso die Praktika und Auswahlverfahren, die sie im Laufe der Zeit absolviert. Der Masterstudiengang in Belgien ist auf ein Jahr ausgelegt – kurz, intensiv, international geprägt. Doch für Annika bleibt es nicht bei zwölf Monaten. Aus dem geplanten Jahr wird eine lange Zeit: Zwölf Jahre lebt sie schließlich in Belgien. Der Auslöser dafür wohnt nur wenige Meter entfernt – in ihrem Studentenwohnheim.

Ron, ein Flame aus Belgien, studiert Informatik, als sich die beiden kennenlernen. Sie werden ein Paar. Ihre gemeinsame Sprache ist Englisch, denn in Studium und Arbeit kommt Annika mit Niederländisch, Rons Sprache aus dem flämischen Teil Belgiens, noch kaum in Berührung.

Doch ihr ist es wichtig, sich vollständig zu integrieren – dazu gehört für sie auch, Rons Landessprache zu lernen.

 

Irgendwann treffen Ron und Annika eine bewusste Entscheidung: Ab sofort sprechen wir nur noch Niederländisch miteinander – auch zuhause. Dabei bleibt es.

„Es hat fünf, sechs Jahre
gedauert, bis ich in der
Sprache arbeiten konnte,“

erinnert sich Annika.

Doch es lohnt sich: Heute ist Niederländisch ganz selbstverständlich Teil ihres Alltags.
Auch nach dem Studium bleibt die Neugier. Die beiden gehen gemeinsam auf Weltreise.
Danach finden sie in Mechelen ein gemeinsames Zuhause. Als schließlich das Jobangebot aus der EU kommt, lehnt Annika schweren Herzens ab. Es passt nicht mehr zu ihrem Leben, das sie sich in Mechelen aufgebaut haben. Belgien ist für Annika zu diesem Zeitpunkt längst mehr als ein Nachbarland – es ist Heimat geworden.
Sie schätzt die ruhige, bedachte Mentalität der Flamen. Vieles erinnert sie an das vertraute Norddeutschland. Auch Ron passt in dieses Bild. Die beiden heiraten in Rheine, im Kloster Bentlage – und entscheiden sich dabei für et-was, das in Deutschland ganz normal ist: Annika nimmt Rons Nachnamen an. In Belgien sorgt das für Irritationen. Dort ist es üblich, den eigenen Namen zu behalten – selbst wenn die Kinder später einen anderen tragen. Doch für Annika ist ein gemeinsamer Familienname wichtig. In diesem Moment wird ihr deutlich, wie sehr sie in bestimmten Dingen deutsch geprägt ist.
Und allzu weit entfernt von Deutschland waren sie ohnehin nie. Nur drei Stunden braucht Annika mit dem Auto nach Rheine. Damit ist sie schneller vor Ort als manche ihrer Geschwister, die in einem anderen Bundesland wohnen. Als Ron und sie schließlich ein Haus in der Nähe von Mechelen kaufen, scheint das Leben dort endgültig. Doch mit der Geburt ihrer Zwillinge ändern sich die Prioritäten. Dann steht plötzlich das alte Grundstück neben Annikas Elternhaus in Rheine zum Verkauf. Ein Zufall? Schicksal?
Vielleicht beides. Ist Rheine doch der richtige Ort für ihre wachsende Familie?

Eine gute Mischung, um Kinder großzuziehen?
„Es war nicht geplant – aber der Umzug fühlte sich richtig an“, sagen sie zehn Jahre später, während sie im Wohnzimmer des besagten Hauses sitzen. Rons Familie und Freunde reagieren erstaunt: „So weit weg?“ Seine Eltern, die selbst in Grenznähe wohnen und Deutsch sprechen, hatten immer eine Verbindung zu Deutschland. Trotzdem ist der Umzug über eine Landesgrenze für sie ein großer Schritt.

Doch Rheine macht es den beiden leicht. Ron kennt die Stadt aus gemeinsamen Urlauben. Als Informatiker findet er überall Arbeit und die Umstellung auf Deutsch im Berufsleben fällt ihm nicht schwer. Wenn das auf deutscher Seite nicht geklappt hätte, wäre ich eben über die niederländische Grenze gependelt. Überhaupt kein Thema“, sagt er. Europa macht’s möglich.

Die Nähe zu den Niederlanden nutzen sie auch für ihre Kinder. Ihre Zwillinge – ein Junge und ein Mädchen – feiern schon ihren ersten Geburtstag in Rheine. An Belgien haben sie keine bewusste Erinnerung. Sprache wird daher zum zentralen Thema. Die Kinder wachsen theoretisch zweisprachig auf, doch im Alltag ist Niederländisch schwer zu integrieren. Sie verstehen vieles, sprechen aber wenig. Annika bleibt zuversichtlich: „Ich selbst habe Niederländisch erst mit Mitte 20 gelernt.“ Es sei nie zu spät.

Spielerisch sollen die Kinder Zugang zur flämischen Kultur behalten: durch Nikolausfeiern in Enschede, belgische Fernsehsendungen oder Süßigkeiten, die es nur dort gibt.

Ron und Annika fühlen sich in Rheine angekommen. Die Stadt ist ein guter Kompromiss – nicht zu städtisch, nicht zu ländlich, gut angebunden und familienfreundlich. Dass Annika dennoch gelegentlich von Belgien träumt, ist für sie ein Ausdruck von Nostalgie, nicht unbedingt ein Aufruf zum Umzug. Manchmal fragt sie sich: Was wäre gewesen, wenn die Kinder in Belgien aufgewachsen wären? Auch solche Gedanken gibt es. Die ausgeprägte Mehrsprachigkeit – das hätte uns gefallen“, sagen sie und Ron. Aber die Unterschiede sind nicht groß. Und der enge Familienanschluss in Deutschland bedeutet ihnen viel.

Inzwischen denkt Ron darüber nach, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Nicht nur, weil seine Frau und Kinder Deutsche sind.

„Der deutsche Pass hätte
vor allem praktische Gründe,“

sagt er. Damit ließen sich viele Alltagsdinge – wie das Eröffnen eines Kontos oder das Erneuern des Passes – unkomplizierter regeln. Politische Privilegien wie das Wahlrecht spielen für ihn eine untergeordnete Rolle. Für Annika hingegen ist Wählen ein wichtiges Gut. Auch sie könnte einen belgischen Pass beantragen – ebenso wie die Kinder. Doch momentan macht die Nationalität auf dem Papier für die Familie keinen Unterschied.

Und nicht nur für bürokratische Angelegenheiten kehren sie nach Belgien zurück. Sie möchten ihren Kindern das Land zeigen, das ihre Eltern lange Heimat nannten. Bei einem kürzlichen Besuch in Löwen – die Universität feiert ihr 600-jähriges Bestehen – nimmt die Familie an einem Empfang für internationale Alumni teil. Deutsche, Inder, Chinesen und viele weitere Nationalitäten sind vertreten. Die Tochter schaut sich um und sagt: „Ich will auch mal in Belgien studieren. Annika lächelt. „Ich glaube, wir haben da etwas geweckt.“ Es ist keine theoretische Debatte über Europa, die Ron und Annika mit ihren Kindern führen.

Europa war und ist Teil ihres Lebens. Ohne die EU hätte Annika den Master in Belgien nicht gemacht. Sie und Ron hätten sich womöglich nie kennengelernt. Der Umzug nach Deutschland wäre mit viel mehr Hürden verbunden gewesen. Europa zeigt sich auch im Alltag: bei der Geburtsurkunde der Kinder, ausgestellt in Belgien und problemlos anerkannt in Deutschland.
Beim Kindergeld, das ohne Unterbrechung weiterlief. Oder in der Option, auch jenseits der Grenze zu arbeiten.

„Für mich war Europa
immer etwas, das Türen
öffnet,“

sagt Annika. Und auch jetzt, da nationalistische Stimmen in Deutschland und Belgien lauter werden, bleibt sie bei ihrer Überzeugung: „Ich bin absolut für Europa, für Zusammenarbeit, für Aus-tausch. Das geben sie auch ihren Kindern weiter
– nicht aus Idealismus, sondern aus Erfahrung.
Annika spricht viel über Flexibilität und Sprachen als Schlüsselkompetenz. Was sie und Ron ihren Kindern mit auf den Weg geben möchten, ist kein bestimmter Ort, sondern eine Haltung: „Für mich ist das Wichtigste: Offenheit, Sprachkenntnisse, die Fähigkeit, sich überall zurechtzufinden. Man muss offen für Neues sein – dann kann daraus etwas ganz Wunderbares entstehen.“ Dass ihre Kinder das erleben, erkennen und nachfühlen – das ist Annikas und Rons großer Wunsch.